1. Poetik-Dozentur: Rimini Protokoll

Der erste Inhaber / die erste Inhaberin der zum Wintersemester 2011/12 erstmals in der Germanistik an der Universität des Saarlandes eingerichteten Poetik-Dozentur für Dramatik ist das Berliner Theater-Kollektiv Rimini Protokoll! (Informationen zur zweiten Besetzung im Wintersemester 2012/13 folgen im Sommer 2012 an diesem Ort).

Rimini Protokoll

Rimini Protokoll ist einer der wichtigsten Vorreiter der seit Jahren beobachteten Renaissance des Realen auf dem Theater, ist Anreger und Impulsgeber eines neuartigen, postdramatischen Dokumentartheaters und einer Ästhetik der Authentizität auf dem Theater: Entscheidend dafür ist, dass Rimini Protokoll in seinen Arbeiten zwar gelegentlich auf klassische Theaterstücke Bezug nimmt (auf Wallensteins Lager von Schiller etwa oder auf Kleists Hermannsschlacht). Auf der Bühne aber stehen nicht professionelle Schauspieler, sondern sogenannte Experten des Alltags. Und die Texte, die diese Menschen ohne Schauspielausbildung sprechen, haben nicht Kaegi, Haug und Wetzel mit dichterischem Anspruch für sie geschrieben, sondern gemeinsam mit den Experten des Alltags formuliert.

Als Schauplatz ihrer Theaterereignisse wählen Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel klassische Theatergebäude und Bühnen, aber auch höchst ungewöhnliche Orte: ein Gericht, einen umgebauten LKW, die Straßen von Berlin, eine Stadttour, einen Flughafen oder die Hauptversammlung der Daimler-Aktionäre im ICC-Berlin. Befinden sich mitunter Publikum und Theaterdarsteller an einem Ort, kann sie in anderen Fällen die halbe Welt trennen, wenn etwa in „Call Cutta“ deutsche Theatergänger von Call-Center-Mitarbeitern in Indien durch die Straßen Berlins dirigiert werden und miteinander ins Gespräch kommen.

Bereits 2004 wurde Rimini Protokoll zum renommierten Berliner Theatertreffen eingeladen, 2007 folgte bei den Mülheimer Dramatikertagen die Auszeichnung sowohl mit dem Publikumspreis als auch mit dem wichtigsten Preis für deutschsprachige Dramatik, dem Mülheimer Dramatikerpreis, für „Karl Marx: Das Kapital, Erster Band“. Noch 2007 erhielt Rimini Protokoll auch den erstmals vergebenen Sonderpreis des Deutschen Theaterpreises DER FAUST „für ihre ungewöhnliche Theaterform“. 2008 folgten der Europäische Theaterpreis in der Kategorie „Neue Realitäten“ sowie der Hörspielpreis der Kriegsblinden, 2009 eine ehrenhafte Nennung beim Prix Ars Electronica 09 in der Kategorie „Interaktive Kunst“ und 2011 schließlich der Silberne Löwe bei der 41. Biennale in Venedig in der Kategorie „Theater“ für das bisherige Gesamtwerk.

„Das Theater ist nicht die Dienerin der Dichtung, sondern der Gesellschaft“ zitiert Helgard Haug Brecht, und Stefan Kaegi unterstreicht: „Wir benutzen Theater als ‚Guckloch‘ von Menschen zu Menschen“. Was das Theater von Rimini Protokoll von dem Schillers oder Ibsens grundlegend unterscheidet, ist, dass Rimini Protokoll die Geschichten, die erzählt werden, nur formt, nicht erfindet. Die Menschen auf der Bühne sprechen nur wenig miteinander, sind nicht Teil einer Bühnenhandlung, sondern sie erzählen dem Publikum von sich selbst.

Das Theater von Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel führt so mitten ins Zentrum der wichtigsten Fragen, die über die Möglichkeit und Unmöglichkeit des Theaters im 21. Jahrhunderts gestellt werden müssen: Welchen Status hat der dramatische Text im Theater? Wie literarisch kann oder muss er sein? Soll und kann das Theater dem Publikum die Möglichkeit geben, sich selbst oder seine Welt besser zu verstehen? Wie kann Theater überhaupt auf Wirklichkeit Bezug nehmen? Ermöglichen Nichtschauspieler, die als Experten für das zu verhandelnde Thema auf die Bühne geladen sind und dort sich selbst spielen, einen besseren, gar authentischeren Zugriff auf Wirklichkeit als Schauspieler, die eine Rolle in einer erfundenen Handlung verkörpern? Ist ein Theater, das Menschen in der Rolle ihres Lebens vor ein Publikum stellt, eine gewinnbringende „Archäologie der Gegenwart“ oder ‚lediglich‘ „Gebrauchskunst“ ohne dauerhaften Wert? Ist das Theater der Experten, ist die Hinwendung der Bühnen zum Realen eine notwendige Antwort auf die zunehmende Verstellung der Welt durch die Medien? Ist die Hinwendung zu den individuellen Geschichten der Menschen, die Rimini zeigt, die einzig mögliche Antwort auf das Ende der Utopien, der großen historiographischen Erzählungen? Ist Authentizität auf der Bühne überhaupt möglich – und überhaupt angestrebt?

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Termine der 1. Poetikdozentur für Dramatik 2011/12: Rimini Protokoll ******************************************************************************

Die vier Vorträge (45 Minuten + Diskussion) der Poetik-Dozentur werden zu folgenden Terminen und Theman an nachfolgend genannten Orten stattfinden:

Kurzübersicht:

Mo, 23.01., 20:00 (Alte Feuerwache): Helgard Haug / Stefan Kaegi / Daniel Wetzel: »Ich wäre am 21. Juni   gerne Guido Westerwelle«. Zu Projekten über Partizipation und Macht.

Mo, 30.01., 20:00 (NEU: Alte Feuerwache!): Stefan Kaegi: »Wir sind jetzt 3.000 Kilometer gefahren, haben 1200 Liter Diesel und 20 Sandwiches verbraucht.« Über Mobile Guckkästen und globalisierte Formate.

Mo. 06.02., 20:00 (Mittelfoyer Saarländisches Staatstheater): Daniel Wetzel: »Wer hat heute mit mir mitgelitten?«. Über Expertentheater und dramatische Hintergründe.

Mo. 27.02., 20:00 (Festsaal des Saarbrücker Rathauses): Helgard Haug: »3, 2, 1 – decided«. Über Spielanordnungen, Entscheidungsprozesse und Risiko.

Detailübersicht:

Mo, 23.01.2012

19.30

Videoprojektion: Auszüge aus den Arbeiten von Rimini Protokoll Saarländisches Staatstheater, Feuerwache

20:00

H. Haug / St. Kaegi / D. Wetzel: »Ich wäre am 21. Juni   gerne Guido Westerwelle«. Zu Projekten über Partizipation und Macht. Saarländisches Staatstheater, Feuerwache

Mo, 30.01.2012

19.30

Videoprojektion: Auszüge aus den Arbeiten von Rimini Protokoll Saarländisches Staatstheater, Feuerwache

20:00

Stefan Kaegi: »Wir sind jetzt 3.000   Kilometer gefahren, haben 1200 Liter Diesel und 20 Sandwiches verbraucht.« Über Mobile Guckkästen und globalisierte Formate. NEU: Saarländisches Staatstheater, Feuerwache

Mo, 06.02.2012

19.30

Videoprojektion: Auszüge aus den Arbeiten von Rimini Protokoll Saarländisches Staatstheater, Mittelfoyer

20:00

Daniel Wetzel: »Wer hat heute mit mir mitgelitten?«. Über Expertentheater und dramatische Hintergründe. Saarländisches Staatstheater, Mittelfoyer

Mo, 27.02.1012

19.30

Videoprojektion: Auszüge aus den Arbeiten von Rimini Protokoll Festsaal des Saarbrücker Rathauses

20:00

Helgard Haug: »3, 2, 1 – decided«. Über Spielanordnungen, Entscheidungsprozesse und Risiko. Festsaal des Saarbrücker Rathauses

Ab 19.30 werden jeweils Filmausschnitte aus Arbeiten von Rimini Protokoll vor Ort gezeigt und ermöglichen allen Interessierten, die Stücke des Teams aus eigener Anschauung zu erleben.