Zur Saarbrücker Poetik-Dozentur für Dramatik

Das nachdenken über literatur hat eine lange geschichte

Seit den Anfängen der Literatur in Europa steht der Produktion literarischer Texte als Zwillingsschwester stets die Reflexion über das Wesen der Literatur zur Seite. »Daß Schriftsteller sich zu Fragen der Ästhetik äußern, ist«, um eine treffende Formulierung Paul Michael Lützelers aufzugreifen, »in der Literaturgeschichte kein Novum« – im Gegenteil: »Von Opitz bis Gottsched, von Schiller bis Friedrich Schlegel, von Heine bis Alexis, von Fontane bis Thomas Mann, von Hofmannsthal bis Broch zieht sich eine Linie poetologischer Reflexion durch die deutschsprachige Literaturgeschichte« (Lützeler, S. 7).
Vom Mittelalter bis weit in die Aufklärungsepoche hinein allerdings folgten Schriftsteller in Deutschland und Europa mehrheitlich einem in der jeweiligen Epoche geltenden, einheitlichen Konzept von Wesen, Funktion und idealer Gestalt literarischer Texte. Oft war dies in normativen Poetiken formuliert, etwa in Martin Opitz‘ »Buch von der Deutschen Poeterey« (1624), das zur Grundlage der literarischen Produktion im Barock wurde.

das ende der norm- und regelpoetiken

Erst im Ausgang des 18. Jahrhunderts begann mit der im Sturm und Drang aufkommende Genie- und Autonomieästhetik die Abwendung von überindividuelle Geltung beanspruchenden Norm- und Regelpoetiken. Allgemeine gesellschaftliche Tendenzen zur Subjektivierung und Individualisierung prägten fortan auch die Literatur, der »Weg war frei für individuell-besondere, dezidiert anti-systematische Reflexionen über Literatur« (Schmitz-Emans, S. 377). In wachsendem Maß, auf radikalste Weise im Ausgang des 20. und am Beginn des 21. Jahrhunderts, sind seither Poetiken, also Literaturbegriffe und Literaturkonzepte, nur mehr Sache jedes individuellen Schriftstellers:

»[T]raditionelle Normvorstellungen [wichen] sukzessive solchen Erörterungen, die immer weniger Allgemeingeltung beanspruchen und finden konnten, die mehr und mehr die Ansichten von literarischen Schulen, Gesellschaften, Gruppen und Zirkeln wurden, um schließlich nur noch als subjektive Äußerungen einzelner Autoren akzeptiert zu werden« (Lützeler, S. 7).

postmoderne pluralität als  chance

Das Fehlen überindividuell verbindlicher Literaturauffassungen in Moderne und Post- bzw. Pop-Moderne ist kein Mangel. Die Vielfalt der heute gleichzeitig nebeneinander existierenden Poetiken spiegelt vielmehr die Komplexität und die Widersprüche einer Gesellschaft ohne verbindliche Normen – und sie wird ihr gerecht: Die Pluralität der Literaturen ermöglicht eine multiperspektivische, viel-konzeptuelle Selbstreflexion und Selbstbefragung im Medium der Literatur.

Der Umbruch von der normativen Poetik zur Gleichzeitigkeit verschiedenster individueller Poetiken macht unvermeidbar, das Literaturverständnis eines jeden Autors individuell zu erforschen und zu erfassen. Es entsteht die Notwendigkeit, immer wieder neu über Poetik zu reflektieren, über Literaturkonzepte zu sprechen: Leser untereinander oder mit den Autoren selbst. Diese Kommunikation über Literatur geschieht auf vielen Wegen: in Interviews, im Anschluss an Lesungen oder in Essays und in Essaysammlungen. Autoren werden zur Selbstdeutung ihrer Gedichte eingeladen (»Doppelinterpretationen«, 1969), Schreibende verfassen Manifeste oder halten bei Gelegenheit Vorträge über Literatur (Gottfried Benn: »Probleme der Lyrik«, 1951), besonders in Dankreden anlässlich der Überreichung von Literaturpreisen.

Poetik-Dozenturen sind ein zentrales Mittel der literaturvermittlung und der förderung eines reflektierten und kontinuierlichen gesprächs über literatur

Das wichtigste Medium zur Stimulation des Gesprächs aber sind die seit mehreren Jahrzehnten an verschiedenen Universitäten eingerichteten Poetik-Dozenturen: Schreibende, deren Werk besondere Relevanz  besitzt und höchste Aufmerksamkeit verdient, werden eingeladen, an der Univeristät oder an einem anderen öffentlichen Ort in einer kurzen Folge von Vorträgen ihren individuellen Literaturbegriff vorzustellen. Die Autoren sind eingeladen, ihre individuelle Poetik zu entfalten, ihr Schreiben theoretisch zu reflektieren und anschaulich zu erläutern, Visionen der Zukunft der Literatur zu entwerfen und Stellung zu Fragen nach dem Kern ihres literarischen Handelns zu beziehen.

Der Gewinn dieser Dozenturen ist vielfach: Die Universität wird zur Förderin der Literatur, die Dozentur schafft für Schreibende einen Freiraum, das Alltagsgeschäft ruhen zu lassen und konzentriert über den eigenen Literaturbegriff, das eigene Werk zu reflektieren und die Ergebnisse dieses Nachdenkens im öffentlichen Vortrag auf den Begriff zu bringen.
Die Einladung zur Poetik-Dozentur ist Ausdruck einer besonderen Wertschätzung herausragender Schreibender. Sie hilft, den Rang der Literatur als zentrales Medium gesellschaftlicher Selbstreflexion zu festigen. Als öffentliche Veranstaltungen an öffentlichen Orten sind Poetik-Dozenturen zudem ein herausragendes Mittel der Demokratisierung des Gesprächs über Literatur. Im Export des Literaturdiskurses aus der Universität in die Gesellschaft hinein erweist sich die gesellschaftliche Relevanz der Universität über ihre Qualifikationsfunktion hinaus. Innerhalb der Universität schließlich ermöglicht die Poetik-Dozentur einen intensiven Kontakt Studierender mit einem Schreibenden der Gegenwart: über die Vorträge ebenso wie über ein zur Dozentur angebotenes Seminar, das der Inhaber der Dozentur auch besucht, um den Studierenden im persönlichen Gespräch Rede und Antwort zu stehen.

notwendigkeit einer poetik-professur für dramatik

Die Berufung auf die zum Wintersemester 1959/60 erstmals eingerichtete Poetik-Dozentur an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main ist innerhalb der deutschsprachigen Literatur eine der neben dem Büchner-Preis höchsten Ehrungen. Die anschließend in Buchform gedruckten Texte sind eine zentrale Grundlage des Textverstehens im 20. und 21. Jahrhundert.

Obwohl zu den bestehenden Poetik-Dozenturen gelegentlich auch Dramatiker eingeladen werden, ist die deutschsprachige Dramatik deutlich unterrepräsentiert. Eine spezifische Poetik-Dozentur für Dramatik gibt es bisher nicht. Vor allem aber lässt sich konstatieren, dass das öffentliche Gespräch über die zeitgenössische Dramatik jenseits fachwissenschaftlicher und universitärer Diskurse nicht jene Intensität besitzt, die ihrer Vielfalt und großen Qualität gerecht würde: In den Feuilletons etwa finden sich regelmäßig Aufführungskritiken, kaum aber Besprechungen von Dramentexten. Der Druck traditioneller Dramen oder der Dokumentation neuerer Theaterereignisse erfolgt nur zögerlich, die Werke nicht weniger Autoren bleiben mehrheitlich unpubliziert oder finden, trotz ihrer Qualität kaum Käufer. Gegenüber den vielen Möglichkeiten, die sich das Theater in den letzten Jahrzehnten als Ort theatraler Ereignisse und unerwarteter Ereignisse für das Publikum erarbeitet hat, herrscht bei einem nicht geringen Teil der Öffentlichkeit noch immer nachhaltige Skepsis. Ein in einer breiteren Öffentlichkeit geführtes Gespräch gerade auch über die Maßstäbe, an denen das neue Theater gemessen werden möchte und gemessen werden darf, scheint dringlich notwendig.

Die Saarbrücker Poetik-Dozentur für Dramatik bietet für diese und weitere Fragen und Debatten ab dem Wintersemester 2011/12 einmal jährlich in drei Vorträgen wegweisender Dramatiker und Dramatikerinnen ein Forum. Ihre wichtigste Funktion besteht dabei darin, dem ambitionierten Gespräch über die zeitgenössische Dramatik in ihren vielen Formen ein kontinuierliches Forum zur Verfügung zu stellen. Zu diesem Zweck werden die Texte der Vorlesungen stets auch in Buchform erscheinen: Die Vorträge der ersten drei Saarbrücker Poetik-Dozenturen für Dramatik sind im Verlag Theater der Zeit erschienen, die Vorträge von Albert Ostermaier und Falk Richter werden im Alexander Verlag in Berlin verlegt werden.

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Literatur:
Paul Michael Lützeler: Einleitung. Poetikvorlesungen und Postmoderne. In: Ders. (Hg.): Poetiken der Autoren. Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Frankfurt a.M.: Fischer 1994, S. 7-19.
Monika Schmitz-Emans: Reflexionen über Präsenz. Poetikvorlesungen als Experimente mit dem Ich und mit der Zeit. In: Monika Schmitz-Emans/Claudia Schmitt/Christian Winterhalter (Hgg.): Komparatistik als Humanwissenschaft. Festschrift zum 65. Geburtstag von Manfred Schmeling. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 377-386.
Für eine Übersicht der Poetikprofessuren und -dozenturen im deutschsprachigen Raum siehe: Monika Schmitz-Emans/Uwe Lindemann/Manfred Schmeling (Hgg.): Poetiken. Autoren – Texte – Begriffe. Berlin/New York: de Gruyter 2009, S. 445-465.